Nachkriegsarchitektur in Nordrhein-Westfalen

 

Stadtwohnen, neue Bauformen

Text und Fotografien: Eckhard Sons

Wohnung ist für den Menschen existenznotwendige, lebensnahe und lebensbeeinflussende Hülle. Die gestalterische Einflussnahme auf das Jedermanns-Wohnen im Miethausbau entstand bei Architekten trotzdem erst Ende des 19. Jahrhunderts, letztlich aufgrund der Erkenntnis, dass die Produkte profitorientierter Bauunternehmer die Notwendigkeiten unterbieten. Neue Ideen betrafen auch den Städtebau, hier von der Idylle der Gartenstadt bis hin zur Kompaktstadt als Großküche des Lebens. Bekannt ist in Deutschland in diesem Zusammenhang Ludwig Hilbersheimer; lautstärkster und wohl auch radikalster Protagonist ist Le Corbusier, der mit seinen Konzepten zur neuen Stadt auch die Wohntypen überdenkt.

Schon vor dem Zweiten Weltkrieg entstanden Wohnhochhäuser in Italien und Frankreich, entwarf Le Corbusier Rastersysteme zum Selbsteinbau von Wohnungen, entwickelte Mies van der Rohe mit Studenten in Berlin den Typ Gartenhofhaus und die Teppichbebauung, gab es Tendenzen, den kompakten Baukörper aufzulösen. 1923 entwarf Theo van Doesburg in Zusammenarbeit mit Cornelis van Esteren eine Architekturplastik, Adolf Loos baute zwischen 1921 und 1924 abgestufte Häuser in Wien Heuberg und M. L. Leroux 1934 in Villeneuve bei Lyon Wohnhochhäuser, deren oberste Geschosse sich zurückstufen. Die Wirtschaftskrise Ende der 1920er, die politische Landschaft der 1930er Jahre und der Zweite Weltkrieg dämpften weniger die Gedanken als deren Realisierung.

Der Wohnhügel

Speziell in Westdeutschland vollzog sich Ende der 1950er Jahre ein gestalterischer Aufbruch, der sich im Zuge neuer städteplanerischer Konzepte auch mit neuen Wohntypen befasste. So stellte 1959 das Architektenteam Faller, Frey, Schröder, Schmidt in einem Wettbewerb für die Nordweststadt Frankfurt den Wohnhügel vor; im Prinzip ein mehrgeschossiges Nur-Dach-Haus mit Einschnitten und Ausbauten. 1963 radikalisierten die Architekten Roland Frey und Hermann Schröder diese Form in einem Wettbewerb für Stuttgart Neugereut. Keiner der Entwürfe wurde realisiert. 1964 konnten Frey und Schröder jedoch den Stadtrat der jungen Stadt Marl für den Bau eine auf vier Geschosse reduzierte Fassung des Wohnhügels mit 46 Wohneinheiten gewinnen. Das 1966-67 ausgeführte Projekt ist der erste Wohnhügel Europas. (Abb. 1 und 2)

Gestalterischer Grundgedanke dieses Haustyps ist es, eine hohe Wohndichte bei optimaler Belichtung mit einer Außenfläche von 20 bis 40 Quadratmeter für jede Wohneinheit zu erzielen und dabei der Forderung nach Wohnintimität nachzukommen. Ferner ging es um eine starke Durchmischung von Wohnungsgrößen.

Das Terrassenhaus

Es gibt zahlreiche Beispiele von Hangbebauungen, bei denen die einzelnen Geschosse versetzt gestapelt sind. Der Hang ist hierbei die natürliche schiefe Ebene, so dass das Dach des unteren Hauses jeweils die Terrasse für das darüber liegende bildet.

Habitat 67 in Montreal (Kanada) ist der erste (und bisher einzige) aufgeständerte Terrassenbau. Als Ergebnis eines Wettbewerbs für ein Stadtbausystem wurde er 1965-67 nach Plänen des Architekten Moshe Safdie für die Weltausstellung errichtet. Das Gebäude war gedacht als Demonstrationsobjekt für zukunftsorientiertes Wohnen. Auf einem geneigten, tragenden und gleichzeitig der Erschließung dienenden Betongerüst wurden ca. 5 x 11 x 3 Meter große Fertigcaissons so gestapelt, dass verschiedenste Wohnungsarten und -größen entstanden; teils einzeln, teils als Maisonettes, teils auf einer Ebene aneinandergekoppelt, wobei jeweils die Dächer der unteren Caissons sichtgeschützte Terrassen für die darüber liegenden bilden. Es entstand eine elfgeschossige Großplastik.

Das Terrassenhaus Bochum, Girondelle 80-84

Für die Universität und für die Autofirma Opel wies die Stadt Bochum in den 1960er Jahren ein Wohngebiet mit einer Vielfalt von Bautypen für 25.000 Menschen aus, das sukzessive ausgebaut wurde. Das Terrassenhaus Girondelle wurde hier zwischen 1967 und 1971 realisiert.

Nach einer Planungszeit von ca. zwei Jahren entstand im sozialen Wohnungsbau ein ca. 200 Meter langer, bis zu acht Geschossen hoher Baukörper mit 211 Wohneinheiten von 1 ½ bis 6 Zimmern. Bauherr war die Wohnbaugesellschaft Bochum, Architekt Albin Hennig aus Nürnberg, der in Bochum sechs weitere Objekte realisierte, unter anderem das Verwaltungszentrum der Ruhr-Universität.

Der stark gegliederte, sich in der Höhe zurückstaffelnde Schottenbau gliedert sich in fünf Bauteile. Die äußeren sind wesentlich kürzer als die mittleren. Ablesbar werden sie durch vier tief eingeschnittene Haupttreppenkerne mit Aufzug. (Abb. 3) Drei weitere kleinere Treppenkerne befinden sich im Inneren der längeren Baukörper und sind nur bei Kenntnis des Baus ablesbar. All diese zweiläufigen Treppen werden genutzt, die Wohnebenen halbgeschossig zu verschieben, gleichzeitig aber auch die Baufluchten vor- oder zurückzuversetzen. (Abb. 4) Noch unterstützt durch die Wahl zweier Achsmaße für die Schotten (3,75 und 5,25 Meter), die ohne regelmäßige Abfolge angeordnet sind, entsteht im geschossweisen Vor- und Rückspringen der Einzelfelder, oft noch durch vorgelagerte Terrassen und die Schottengrenze übergreifende Balkone überspielt, eine sich nach oben zurückstaffelnde Architekturplastik von größter Lebendigkeit. (Abb. 5) Die Verjüngung des Gebäudequerschnittes wird erzielt, indem der Architekt für das Erdgeschoß - wohl in Anklang an den Marler Wohnhügel - einen Winkelgrundriss verwendete, dessen weit vorkragender Schenkel dem Geschoß darüber als Terrasse dient. Die unteren Geschosse werden durch einen ca.1,50 Meter breiten Mittelgang erschlossen (und verbreitert); die oberen schließen dagegen über kurze Stichflure direkt an die Haupt- und Nebenkerne an. Am Ende dieser Flure liegen die großen Wohnungen. Diese gehen über die gesamte, sich nach oben reduzierende Haustiefe. In einigen Bereichen gibt es zur weiteren Verschlankung auch Laubengänge. (Abb. 6)

Farblich bestimmte Sichtbeton das Erdgeschoss. In den weiteren Geschossen waren die Felder mit einer weißen Verkleidung eingerahmt, die Fensterrahmen ocker und die Brüstungspaneele graublau gehalten, die Pflanzkästen wiederum in Sichtbeton. So ergab sich eine verhaltene farbliche Differenzierung. Diese Gestaltung ist im Laufe der Zeit bis auf einige Rudimente ein Opfer der Erneuerung der Fenster in weißem, später auch braunem Kunststoff geworden.

Die Wohnungen entsprechen in den Abmessungen der Räume den (damaligen) Vorgaben des sozialen Wohnungsbaus, Wohnräume werden direkt belichtet, meist auch die Küchen. Der Planer legte zudem Wert auf die Ausweisung eines Essplatzes. Neben-und Funktionsräume liegen innen bzw. am Mittelgang.

Nachfolgebauten

Äußerlich ähnlich war das als Prototyp für ein Stadtbausystem (siehe Habitat 67) gedachte Projekt Metastadt für die neue gegründete Stadt Wulfen-Barkenberg, nach dem sich in fast beliebiger Struktur urbaner Wohnbau "häkeln" lassen sollte. Architekt war Richard Dietrich, der einen Abschnitt mit 103 Wohneinheiten, Geschäften und Arztpraxen in den Jahren 1973/4 realisieren konnte. Ein Stahlgerüst bildete die gerasterte Tragkonstruktion, die frei mit nichttragenden Platten ausgefacht werden konnte. Es ergab sich eine dem Habitat 67 verwandte Ansicht, die stark an die Caisson-Architektur und ihre Terrassierung erinnerte. Strukturveränderungen im Ort, in den Eigentumsverhältnissen sowie massive Baumängel führten 1987 zum (vorschnellen) Abriss.

Grundsätzlich gelang ein Durchbruch am ehesten noch der Hangbebauung; nicht aber dem Wohnhügel oder dem Terrassenhaus, unabhängig davon, wie gut deren Innenleben gestaltet war. Eine Ausnahme bildete der Wohnhügel in Marl, der um drei Einheiten ergänzt wurde. In Bochum ist zwar das Bauexperiment im Preisrahmen des sozialen Wohnungsbaus geglückt, die komplizierte Fassaden führten aber zwangsläufig zu einer erhöhte Bauunterhaltung.

 

Literatur

Bauwelt Heft 46/1972.

Leonardo Benevolo: Geschichte der Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts. München 1964.

Gustav Hassenpflug/Paulhans Peters: Scheibe, Punkt und Hügel. Neue Wohnhochhäuser. München 1966.

Ot Hoffmann/ Christoph Repenthin: Neue urbane Wohnformen. Gartenhofhäuser, Teppichsiedlungen, Terrassenhäuser. Berlin 1966.

Jörg C. Kirschenmann/Christian Muschalek: Quartiere zum Wohnen. Stuttgart 1977.

Hans Mausbach: Städtebau der Gegenwart. Düsseldorf 1966 (2. Aufl.).

Paolo Nestler/Peter M. Bode: Deutsche Kunst seit 1960. Architektur. München 1976.

Wolfgang Pehnt: Neue deutsche Architektur 3. Stuttgart 1970.

Moshe Safdie: For everyone a garden. Cambridge/London 1974.

Karl Wilhelm Schmitt: Mehrgeschossiger Wohnbau. Stuttgart 1966.