Nachkriegsarchitektur in Nordrhein-Westfalen

 

Das Geschwister-Scholl-Gymnasium (heute Gesamtschule) in Lünen als Ausdruck des Architekturverständnisses von Hans Scharoun

Text und Fotografien: Natalia Knickmeier

Das Architekturverständnis Hans Scharouns

Hans Scharoun, geboren 1893 in Bremen, gestorben 1972 in Berlin, der sein Studium der Architektur nie beendete, verfolgte die Ansichten Hugo Härings, der die Baugestalt aus dem Wesen der Bauaufgabe ableitete und die Unterwerfung durch ästhetische Vorstellungen ablehnte.

Schon 1951 rückte Scharoun mit seinem Entwurf für eine Schule in Darmstadt in den Mittelpunkt des Interesses von Pädagogen und Architekten. Im Rahmen der Tagung "Mensch & Raum" lud die Stadt Darmstadt zehn Architekten ein, um Vorschläge für öffentliche Bauten zu machen. Zu dem Bau dieser Schule kam es nicht, doch konnte Scharoun seine Ideen letztendlich in Lünen und in Marl (1960-1964) umsetzten. Mit seinen Entwürfen schlug Scharoun eine neue Richtung im Bereich des Schulbaus ein und wandte sich bewusst vom gewöhnlichen Kasernentypus ab.

Im Fall des Mädchengymnasiums in Lünen bedeutete dies, auf die Bedürfnisse von Kindern während ihrer Entwicklungsstadien einzugehen, in der Bauplanung zwischen diesen zu unterscheiden und die Ergebnisse im Bau umzusetzen. Dazu sagte er selbst:

"Die wichtigste Aufgabe der Erziehung ist die Einordnung des Individuums in die Gemeinschaft, seine Entwicklung zu einer persönlichen Verantwortung - mit dem Ziel der Qualitätssteigerung, so dass eine Gemeinschaft nicht additiven, sondern potenzierenden Charakters entsteht. Es geht dabei nicht um Wissensvermehrung, sondern um Erlebnisvermittlung und Bewusstseinsbildung, damit der Einzelne den echten Kontakt zum öffentlichen Leben und Beziehung zur politischen Gemeinschaft finden kann. [...] So sollte ein Schulbau nicht Symbol politischer Macht oder Ergebnis technischer oder künstlerischer Perfektion sein. Wie jedes andere Gebäude sollte eine Schule eine Vorstellung von Leben vermitteln, die dem universalen Prinzip der Demokratie entspricht." (Scharoun, 1961, S. 4)

Die Geschichte der Schule

Vor dem Neubau des Geschwister-Scholl-Gymnasiums gab es in Lünen lediglich ein Gymnasium für Jungen und Mädchen. Dies führte ab 1948 aufgrund steigender Schülerzahlen zu wöchentlichem Schichtunterricht. Dieser unakzeptable Zustand sollte schnell behoben werden und die Pläne für den Bau einer neuen Schule wurden konkreter. Aufgrund des Zeitdrucks entschied sich der zuständige Rat gegen eine öffentliche Ausschreibung und beauftragte mit Beschluss vom 29. Januar 1956 den Architekten und damaligen Direktor an der Hochschule für bildenden Künste Berlin, Hans Scharoun, direkt. Noch im gleichen Jahr folgte der erste Spatenstich und zwei Jahre später konnte der erste Gebäudeteil bezogen werden. 1962 wurde das Gebäude dann fertiggestellt (Abb. 1, Eingang). 1986 wurde das Gymnasium aufgelöst und in die angrenzende Gesamtschule eingegliedert, wobei der Name Geschwister Scholl erhalten blieb.

Die Schule als Raum der Entwicklung

Scharoun wollte für die Mädchen eine zweite Heimat schaffen, die Klasse sollte eine Art von Familienverband darstellen. Die Räume sollten das körperliche und geistige Wachstum der Schülerinnen fördern und sich auch den unterschiedlichen Entwicklungsstufen anpassen. Die Klassenräume, Scharoun selbst nennt sie Schulwohnungen, bilden einen besonderen Bezug zu seinen architektonischen Vorstellung ab. In jeder Schulwohnung findet sich auf dem polygonalen Grundriss ein Unterrichtsraum (Abb. 2) mit zwei zusätzlichen Raumnischen, angeschlossen ist außerdem ein Freiluftunterrichtsraum (Atriumhof; Abb. 3). Die Klassenräume im Obergeschoss, die für die Oberstufe vorgesehen sind, unterscheiden sich im Grundriss nicht, ihnen ist jedoch eine Terrasse zugeordnet. Scharoun entschied sich im Gesamtkontext des Gebäudes für eine Trennung der Unter-, Mittel- und Oberstufe, wobei die Klassenwohnungen für die jüngeren Schülerinnen im südlichsten Teil der Schule angelegt wurden und die Oberstufenräume zur Stadtseite, also in Richtung der Gesellschaft liegen. Der Gedanke dahinter war, dass sich die Schülerinnen in jungen Jahren noch ihrer kindlichen Individualität hingeben und sich während ihrer Schullaufbahn bis zur Oberstufe zu einem Teil der Gesellschaft und politischen Gemeinschaft entwickeln. Die Klassenwohnungen sind nur eine kleine Einheit des in sich geschlossenen und komplexen Gebäudes. Bei einem Blick auf den Grundriss lässt sich ein zweigeschossiger, zu Straße abgestaffelter Baukörper erkennen. Dabei bildet die Straßenseite das Rückgrat, an dem sich zwei Klassentrakte mit Fluren und beidseitig angeordneten Klassen anschließen. Auch die Aula tritt aus dem Gebäude heraus und begrenzt den Schulhof im Westen.

Die Schule als Zeichen einer neuen Zeit

Das Gebäude steht auch als Symbol einer neuen Zukunft. Die Auflösung starrer Formen, weg vom Kasernentypus, spiegelt die neue Demokratie des Nachkriegsdeutschlands wider, in dem Diskussionen, wie in der polygonalen Aula (Abb. 4), möglich sind. Jeder Mensch hat ein Recht auf sein eigenes "Ich" und darauf, es zu schützen, wie die Schülerinnen in einem eigens für sie errichteten Mädchentreff. Kunst und Wissenschaft sollen gefördert werden und nehmen auch im Mädchengymnasium einen großen Raum ein.

Für Scharoun spielten in erster Linie die Bedürfnisse der Menschen eine Rolle, die in den Gebäuden wirken, und obwohl es ihm nie in den Sinn gekommen wäre, sich Ideen bei den Schülerinnen einzuholen, hat er bei genauer Betrachtung des Gebäudes trotzdem einen Ort geschaffen, der die Bedürfnisse der Nutzer befriedigen kann.

Derzeitige Situation

Zurzeit wird die Geschwister-Scholl-Gesamtschule umfangreich saniert. Dabei soll vor allem keine Substanz verloren gehen, sondern die alte Scharoun'sche Gestalt wieder sichtbar gemacht werden. So wurde unter anderem das originale Farbspektrum analysiert, um den originalen Anstrich zu rekonstruieren. Die geplanten Kosten belaufen sich auf 8 Millionen Euro.

 

Literatur

Christoph J. Bückle: Hans Scharoun. Zürich 1993.

Peter Pfankuch: Hans Scharoun. Bauten, Entwürfe, Texte. Berlin 1974.

Christine Hoh-Slodczyk/Norbert Huse/Günther Kühne/Andreas Tönnismann: Hans Scharoun - Architekt in Deutschland 1893-1972. München 1992.

Manfred Kaesner: Die architektonische Gestaltung des Schulgebäudes. In: 25 Jahre Geschwister Scholl - Gymnasium Lünen. Lünen 1983, S. 15-20.

Jost Schäfer/LWL-Denkmalpflege, Landschafts- und Baukultur in Westfalen, Münster (Hg.): Fremde Impulse. Baudenkmale im Ruhrgebiet. 10. Arbeitsheft der LWL-Denkmalpflege, Landschafts- und Baukultur in Westfalen. Münster 2011.

Hans Scharoun: Raum und Milieu der Schule. Vortrag auf der XII. Trienale. In: Bauen + Wohnen, Heft 4/1961, S. 10-13.

Jutta Wieloch: Den Scharoun-Code entschlüsseln. In: Wolfsburger Allgemeine Zeitung vom 02.02.2011. Im Internet: http://www.scharoun-luenen.de/index.php?option=com_content&view=article&id=95:02022011-den-scharoun-code-entschluesseln&catid=34:zeitungsartikel&Itemid=64, gesehen am 10.8.2012.