Nachkriegsarchitektur in Nordrhein-Westfalen

 

Rathaus Marl

Text und Fotografien: Imke Kuhn

Der Auftrag

Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg die Bevölkerungszahl in Marl sprunghaft von 52.000 (1945) auf über 83.000 (1957) Einwohner an. Dadurch konnte das bisherige Amtshaus in Alt-Marl den neu entstandenen Verwaltungsaufwand nicht mehr alleine bewältigen. Ein neues, zentral gelegenes und alle Standorte vereinendes Rathaus im Stadtkern wurde vom Rat der Stadt Marl beschlossen. Dieser wollte ein, dem aufstrebenden Zeitgeist entsprechendes, Demokratie- und Zusammengehörigkeitsgefühl prägen, in dem ein neues Rathaus für alle Bürger als zentrale Anlaufstelle gebaut wird. Die Stadt strebte durch den Neubau zudem an, den Status einer kreisfreien Stadt zu erlangen und unabhängig vom Kreis Recklinghausen zu agieren.

Die Architekten

1957 wurde ein europäischer Wettbewerb ausgeschrieben, an dem zwölf Architekten teilnahmen. Unter anderem schickten namhafte Architekten wie Alvar Aalto (Finnland), Arne Jacobsen (Dänemark), Hans Scharoun (Deutschland) sowie Jacob Berend Bakema und Johannes Hendrik van den Broek (Niederlande) ihre Entwürfe ein. Bakema und van den Broek gewannen den Wettbewerb. Ihr Entwurf wurde von der Jury als herausragend gelobt, besonders die technische und sogleich künstlerische Leistung hervorgehoben.

Als führende Vertreter der Architektur der Moderne arbeiteten Bakema (1915-1981) und van den Broek (1898-1978) angelehnt an die Architektur des Bauhauses und an die niederländische Architektur der frühen 1930er Jahre. Zahlreiche Bauten in Nordeuropa gehen auf das Duo zurück.

Der Entwurf für das Rathaus Marl wurde von den beiden als "Stadtkrone" (Bakema, 1962, S. 68) vorgestellt. Sie wünschten, dass sich die noch zu planende Stadtmitte in niedrigerer Bauweise um das neue Rathaus gruppiert.

Der Bau

Die Architekten sollten nicht nur ein funktionales Rathaus entwerfen, sondern auch die neue städtische Selbstverwaltung durch den Bau repräsentieren . Dabei war die Konstruktion der Verwaltungstürme einmalig. Der Baubeginn fand im November 1960 statt, 1967 wurde der Bau abgeschlossen. Die vielseitige Anlage besteht aus einem zentralen Publikumsgebäude, dem Ratstrakt sowie zwei Bürotürmen (Abb. 1). Ursprünglich waren vier Türme geplant; die Stadt Marl wollte jedoch nur zwei realisieren, da diese den Ansprüchen des Verwaltungsaufwandes genügten.

Das neue Rathaus und die Stadtplanung fanden in den 1950er und 1960er Jahren in Deutschland und in den europäischen Nachbarländern große Anerkennung. Die Fachzeitschrift Architektur und Wohnform sprach von einem der "erregendsten Vorgänge auf dem Gebiet des Städtebaus unserer Zeit" (Ruhrberg, 1958, S. 31). Der Merkur betitelte das Rathaus als das "kühnste und verwegenste Rathaus der Deutschen" (Krüger, 1968, S. 72f.). Der Gebäudekomplex steht am heutigen Creiler Platz Nr. 1, benannt nach der französischen Partnerstadt Creil.

Der Sitzungstrakt

Der durch ein freitragendes, langgestrecktes Spannbeton-Faltwerkdach hervorgehobene Sitzungstrakt (Abb. 2) steht hinter einem Wasserbecken, in dem eine moderne Uhr installiert wurde. Das Faltwerkdach ist 60 Meter lang und 28 Meter breit, besteht aus sieben V-förmigen (Abb. 3) Falten und wurde aus einem Guss gefertigt. Unter dem Dach liegen die Sitzungssäle. Eine Freitreppe führt links von ihnen auf den begehbaren Balkon, der zur Seite des Wasserbeckens angelegt ist. Sie werden ebenfalls von dem Faltdach überspannt (Abb.4). Die aufsteigende Treppe ist der einzige Teil des Gebäudes, der im ursprünglichen Sinne als repräsentativ gelten kann. Durch die Glas-Beton-Fassade des Traktes wirkt dieser offen und einladend für den Bürger, so wie die Architekten es planten.

Weißer Marmor und schwarzer Mipolam bestimmen die Fußbodenbeläge des Sitzungstraktes im Inneren. Die Wände sind ebenfalls mit weißem Marmor, Afzeliaholz und Glasmosaiken verkleidet. Teilweise zeigen sie auch Betonoberflächen. Im Ratstrakt ist das von den Architekten entworfene Mobiliar erhalten geblieben.

Unter den Sitzungssälen im Erdgeschoss befindet sich das heutige Skulpturmuseum Glaskasten. 1987 wurde ein weiterer Glaskasten um den Vorhandenen herum gebaut, um die Ausstellungsfläche zu vergrößern (Abb. 5). Zu sehen ist diese Erweiterung besonders am Fußbodenbelag, der genau die gleichen Steinplatten zeigt, wie sie auf dem Vorplatz liegen.

Der Flachbau

Außen wird ein eingeschossiger L-förmiger Stahlbetonskelettflachbau um den Sitzungstrakt geführt (Abb. 6). Er ist das zentrale Publikumsgebäude des Rathauses. Mit Marmorplatten verkleidet, die im Laufe der Jahre aufgrund von Schäden immer wieder ausgetauscht werden mussten, kragt er weit über den verglasten Sockel hinaus. Der Bau beinhaltet die Räume des Bürgermeisters, der Verwaltungsspitze sowie der Ratsfraktionen. Zugänglich ist der Flachbau über eine breite, geschlossene Brücke, die zugleich den tiefer liegenden Parkplatz überspannt (Abb. 7).

Die Türme

Die Türme stellten aufgrund ihrer Hängekonstruktion eine architektonische Neuheit in der Bundesrepublik Deutschland dar und gelten als die ersten auf diese Weise konstruierten Hängehochhäuser: Ein großer Betonkern mit Treppenhäusern und Aufzügen wächst aus den Fundamenten. Auf diesem Kern ruht ein "Pilzkopf", an dem die Hängeglieder befestigt sind, welche die Geschossdecken halten (Abb. 8). Die Form der Stahlbetonbauten mit vorgehängten Fassaden aus Aluminium, dem schlanken Fuß und den auskragenden Geschossen, sowie das durch ein Freigeschoss abgesetzte Dach, verleihen den Türmen ein eigenwilliges und markantes Aussehen.

Der Innenraum der Türme ist in einer besonderen Eleganz gestaltet. Die Kontinuität der Räume wird durch vielfache Durchblicke untereinander und in den Außenraum geprägt.

Durch den Bergbau bedingte mögliche Absenkungen können die Türme und das Faltwerkdach ausgleichen, da sie auf besonderen Lagerungen gebaut sind, die es erlauben, manuell nachzubessern.

Probleme

1984 bis 1985 musste eine der Hängekonstruktionen aufgrund von statischen Problemen, die durch Umwelt- und Witterungsbelastungen bedingt waren, mit einer zusätzlichen inneren Aufhängung verstärkt werden. Diese Stahlzugbänder wurden direkt in die Büros eingezogen. Die Gestaltung der Fassade wurde dabei soweit es ging beibehalten; die Turmdächer wurden mit einer Stahllage verstärkt, an welche die Bänder anschließen. Somit schließt das Dach nun ebenmäßig flach ab. Die ursprüngliche Wärmedämmung der Fassade und die dadurch entstandenen Beeinträchtigungen des Raumklimas sind nicht mehr zeitgemäß und müssen bald verbessert werden, um aktuellen Standards gerecht zu sein.

Gesamteindruck

Das Marler Rathaus präsentiert sich als eine offene, demokratische, dem Bürger zugewandte Architektur, die den Zeitgeist der 1950er und 60er Jahre im vollsten Umfang aufgreift - die Menschen und ihre Bedürfnisse waren ausschlaggebend für die Gestaltung und nicht nur die Funktion und bisher herrschende Tradition. Offen bleibt jedoch, ob dieser ursprüngliche Gedanke auch heute, circa 50 Jahre später, noch gilt und die Marler Bürger ihr Rathaus als eine einladende, dem Bürger offene Einrichtung sehen oder ob das Rathaus in bloßer Funktion verstanden und genutzt wird.

 

Literatur

Jakob Berend Bakema: Bericht des Architekten. Eine Stadt baut sich ihr Haus. In: Bauwelt Heft 3/1962, S. 68.

Stefan Kleineschulte: Das Rathaus in Marl. Zur Bedeutung der Architektur für die politische Sinnstiftung auf kommunaler Ebene, Diss. Bochum 2003.

Karl Ruhrberg: Eine werdende Stadt sucht ihre Form. Zum Rathauswettbewerb im westfälischen Marl. In: Architektur und Wohnform, Heft 5/1958, S. 31.

Im Internet: http://www.marl.de/marl-nach-themen/stadtportrait/stadtgeschichte/rathaus-marl.html, aufgerufen am 15.7.2012.