Nachkriegsarchitektur in Nordrhein-Westfalen

 

Musiktheater im Revier Gelsenkirchen

Text und Fotografien: Alexandra Klei

Das 1959 eröffnete Theater - bestehend aus einem Großen Haus und einer Studiobühne - verdient unter vielen Gesichtspunkten Aufmerksamkeit: Es wurden hier Räume für unterschiedliche Aufführungsformen umgesetzt, die eine Aufteilung in Zuschauer- und Bühnenbereich variabel gestaltbar umsetzten. Nach dem Prinzip einer Bauhütte wurden Architektur, Kunst und Handwerk auf das Engste verknüpft und die Zusammenarbeit als integraler Bestandteil der Umsetzung des Entwurfs verstanden. Das Gebäude war aber auch der Versuch, eine neue städtische Mitte zu formulieren und dabei die Grenzen zwischen innen und außen nicht nur im Gebäude, sondern auch als eine Frage der Zugänglichkeit für alle gesellschaftlichen Schichten zu thematisieren.

Der Komplex lässt sich in fünf Bereiche unterteilen. Am prägnantesten ist der zum zentralen Platz hin verglaste Kubus des Großen Hauses (Abb. 1), in sein Inneres sind ein geschlossener Baukörper für den Zuschauer- und Bühnenraum gestellt und in ihm sind die Verwaltungsräume, Werkstätten, Magazine, Garderoben etc. untergebracht. Der Glasfassade vorgelagert ist der eingeschossige Eingangs- und Kassenbereich. Westlich schließt sich das für die Öffentlichkeit separat zugängliche Studio an.

Baugeschichte

In den 1930er Jahren fanden Theater- und Opernaufführungen zunächst in der örtlichen Stadthalle statt; erst 1941 wurde ein eigenes Musiktheater eröffnet, das bereits 1944 durch Bombardierungen wieder zerstört wurde. 1954 schrieb die Stadt einen Wettbewerb für einen Neubau aus, den eine Arbeitsgemeinschaft der Architekten Harald Deilmann, Max von Hausen, Ortwin Rave, Werner Ruhnau für sich entscheiden konnten. Unter Federführung von Ruhnau wurde der außerordentlich umstrittene Entwurf umgesetzt. Im Juni 1956 konnte der Grundstein gelegt und am 15. Dezember 1959 das Theater eröffnet werden. Das Gebäude wurde als Stahlbetonskelettbau ausgeführt, dabei ist der Kubus in sieben voneinander getrennte Bauteile aufgegliedert, um Bergwerksschäden zu vermeiden. Dachbinder und vorgehängte Fassaden sind Stahlkonstruktionen. Der Bauplatz war als Zentrum eines zukünftig neuen Forums in der Stadt gedacht; Kultur sollte hiermit zum Mittelpunkt der Arbeiter- und Industriestadt werden. Seit 1966 dient das Gebäude ausschließlich dem Musiktheater. Ende 2009 wurden Sanierungs- und Umbauarbeiten abgeschlossen, die unter anderem zu einer Verbesserung der Akustik im Großen Haus führten. Zudem wurde hier ein Sternenhimmel aus Glasfaserkabeln zur Beleuchtung des Zuschauerbereiches angebracht.

Architektur und Theater

Das Auditorium des Großen Hauses ist im Bereich der Zuschauerplätze über einem halbkreisförmigen Grundriss ausgeformt, die Wand schiebt sich hier als geschlossene halbe Rotunde in das offene Foyer und wird von den filigranen Treppenläufen in ihrer Form betont und zugleich gegliedert (Abb. 2). Im Inneren ist mit der Gestaltung des Bühnen- und Zuschauerbereiches der Versuch umgesetzt, die Grenzen zwischen beiden aufzuheben und einen fließenden Raum zu schaffen. Dafür wurde der trennende Bereich des Orchestergrabens als variierbare Übergangszone gestaltet, die bei Bedarf den Bühnenbereich direkt an die Zuschauer heranrücken kann. Zudem sind die Podien des Orchestergrabens nach oben zu bewegen und so direkt in die Bühne einzubeziehen. Der Eiserne Vorhang ist vor den Orchesterpodien positioniert. Damit kann auch die Vorbühnenzone in den Aufführungen genutzt werden. Schließlich kann die Bühnenöffnung von normal 12 Metern Breite und 7 Metern Höhe bei Entfernung des ersten Zuschauerabschnittes auf 14 Metern Breite und 8,30 Metern Höhe oder - wenn eines der angrenzenden Portale aufgeklappt wird - auf 15,50 Meter Breite vergrößert werden. Insgesamt gibt es bis zu 1.050 Plätze in einem amphitheatralisch ansteigenden Parkett und auf zwei Rängen, die an den Seiten als aneinandergehängte Balkone herabgestuft sind. Der Boden und die Stühle sind grau, Vorhang, Wände und Decken schwarz und die Rangbrüstungen mit mattierter Aluminiumfolie verkleidet. Diese hellen Ränge halten - verstärkt durch zwei Reihen Lampen - den Raum zusammen und bewirken eine außerordentlich konzentrierte Anziehung der Bühne.

Mit dem kleinen Saal ist die Idee von Variabilität noch einen Schritt weiterentwickelt: unter anderem die leichte Bestuhlung für maximal 450 Personen, zahlreiche Seitenzugänge und ein Zugriff auf die Oberbühne von jeder Stelle schufen die baulichen Voraussetzungen sowohl ein Guckkasten- als auch ein Raum- oder Arenatheater herzustellen, die zumindest für das Schauspiel uneingeschränkt anwendbar wären. Insgesamt ist dieser Trakt auf Stützen gestellt, im Eingangs- und Garderobenraum von Glaswänden begrenzt und zeichnet sich im Inneren durch größte Offenheit aus (Abb. 3); nur der Kern mit sanitären Anlagen ist massiv, Foyer und Bühnen-/Zuschauerraum gehen durch unverdeckt mündende Treppen ineinander über.

Architektur und Kunst

Ansatz von Werner Ruhnau war es, bildende Kunst nicht als nachträglich dekorierendes Element zu verstehen, sondern sie mit der Architektur von Anbeginn zu verknüpfen. Fünf bildende Künstler waren in der Folge in die Gestaltung des Gebäudes involviert. Am prägnantesten dürften die von Yves Klein hergestellten vier wandhohen monochromen Reliefbilder im Foyer sein (Abb. 4), deren "Gelsenkirchener Blau" im Kontext der weißen Wände, der schwarzen Decke und des schiefergrauen Bodens eine Leuchtkraft entwickelt, die - besonders in den Abendstunden - auch im Außenbereich noch sichtbar ist. Ihre symmetrische Setzung im Raum betont dabei die Symmetrie und Klarheit der Architektur und bildet gleichzeitig einen Raum. An zwei Wänden im Foyer des Studios sind Mobiles von Jean Tinguely angebracht (Abb. 5), deren sich stetig langsam verändernden Formen auch auf das Experimentelle dieses Bereiches verweisen sollen. Paul Dierkes setzte Strukturen in die Oberflächen der Rundwand, deren Details durch eine intensive Zusammenarbeit mit Lichttechnikern herausgearbeitet werden konnten. Die beiden anderen Arbeiten befinden sich im Außenbereich: Robert Adams erstellte mit dem Betonrelief der zum Platz ausgerichtete 20 Meter langen und 3 Meter hohen Wand ein erstes Gegengewicht zur Leichtigkeit der Fassade. Ein zweites dürfte der an zwei Seiten mit dunkelgrauen Natursteinplatten verkleidete Baukörper des Studios sein, dessen zum Platz ausgerichtete Fassade zusätzlich durch eine Bündelung von Rundstäben aus Stahl von Norbert Kricke betont wird.

Architektur und Stadt

Die heutige bauliche Struktur der Umgebung des Theaters lässt seine in den 1950er Jahren angestrebte städtebauliche Setzung und damit Bedeutung für den Platz kaum mehr ahnen (Abb. 6). So unterbricht zum Beispiel eine vielbefahrene Straße die Beziehung zu den angrenzenden Quartieren, Pflanzungen stellen eine zusätzliche Barriere dar und die angestrebte Sichtachse entlang der vom Bahnhof kommenden Ebertstraße wird durch die Straßenbahnlinien dominiert. Zu einer neuen städtischen Mitte hat er sich nicht entwickelt und Planungen von Ruhnau und Klein, den Platz selbst zu gestalten und hier unter anderem ein Café mit einer Luftdecke zu verwirklichen, wurden nicht umgesetzt.

Vor allem abends erschließt sich dem Betrachter das Konzept des Hauses: Aus dem Inneren erstrahlt das Gebäude, zum Platz hin scheint keine Fassade zu existieren, die Grenze zwischen innen und außen somit aufgehoben. Der Blick kann tief in das Innere des Foyers gehen und der Gegensatz zwischen der plastischen konvexen Form des Zuschauerhauses und der kubischen Form des Hauptbaus schafft eine zusätzliche Spannung. Mit der Transparenz transportiert der Bau gleichzeitig eine wesentliche Idee der Architekten: Entstehen sollte ein Ort, der offen für jeden ist, der hinein will und interessiert ist; der Besuch eines Theater sollte damit nicht mehr einer sich gesellschaftlich abschirmenden Schicht vorbehalten sein. Vor diesem Hintergrund ist auch die häufig geäußerte Kritik, dass die Fassade tagsüber durch Spiegelungen die Einsicht verwehre und daher als Grenze fungiere, hinfällig: Das Publikum tritt in der Regel abends ein, dann, wenn das Gebäude sich von seiner offenen Seite präsentiert.

 

Literatur

Axel Föhl: Musiktheater im Revier. In: ders.: Architekturführer Ruhrgebiet. Delft 2010, S. 179.

Niels Gutschow: Gelsenkirchen. Musiktheater im Revier. In: M:AI (Hg.): Nordrhein-Westfalen. 60 Jahre Architektur und Ingenieurkunst. Essen 2006, S. 96f.

o.A.: Musiktheater im Revier. In: Bund Deutscher Architekten, Bezirksgruppe Ruhrgebiet (Hg.): Das Ruhrgebiet. Architektur nach 1945. Essen 1996, S. 82f.

Werner Runau: Das neue Stadttheater in Gelsenkirchen. In: Bauwelt Heft 15/1960, S. 407-409.

Werner Runau: Kunst am neuen Theater. In: Bauwelt Heft 51/1957, S. 1342-1343.

Hannelore Schubert: Theaterneubauten in Gelsenkirchen. In: Deutsche Bauzeitung Heft 12/1969, S. 664-686.

Adolf Zotzmann: Die Technik des Gelsenkirchener Theaters. In: Bauwelt Heft 15/1960, S. 410-411.